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Ein Zelt in der Wüste

ANGEDACHT | Text: Robert Welzel

„Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ (Heb. 13,14)

Eine Kirche, die keine Träume hat, stirbt“, so lautet ein geflügeltes Wort. In Zeiten schwindender Gemeindeglieder und klammer Kassen fällt das Träumen schwer. Aber auch in der Vergangenheit befanden sich Kirche und Gemeinden zeitweise in schweren, ja sogar existentiellen Situationen. Der 75. Geburtstag unserer Apostel-Notkirche, der am 3. November gefeiert wird, erzählt von einer besonders schlimmen Krisenzeit, aus der sich unsere Gemeinde wie ein Phönix aus der Asche erhob: Am Ende des Zweiten Weltkrieges war Essen eine Trümmerstadt. Es gab nur noch wenige Wohnungen, die uneingeschränkt nutzbar waren, der Schutt türmte sich auf den Straßen und auch sämtliche kirchlichen Gebäude in Essen-West waren zerstört. Viele Menschen hatten ihr Leben verloren, ihre Heimat verlassen müssen, fast alle hatten gefroren und gehungert. Als die Gemeinde 1949 auf ihren wiederholten, flehentlichen Antrag hin eine Notkirche des Hilfswerkes der Evangelischen Kirche zugesprochen bekam, war dies ein sichtbares Hoffnungszeichen.

Heute gilt der vom Architekten Otto Bartning (1883-1959) entworfene Kirchenbausatz aus Holz, Glas und Trümmersteinen als eine architekturgeschichtliche Rarität und steht unter Denkmalschutz. Das ahnte wohl 1949 niemand voraus. Damals war die Gemeinde schlichtweg froh, wieder ein Dach über dem Kopf zu haben. Ermöglicht hatten dies die Spenden US-amerikanischer Christen, die der Evangelical and Reformed Church in der Nähe von Chicago angehörten. Am Aufbau des von Bartning entwickelten Bausatzes mit seinen Holznagelbindern waren die Gemeindeglieder beteiligt: „Trümmerfrauen“ putzten die Steine, die sie aus der Ruine des Gemeindehauses und der großen Apostelkirche gewonnen hatten. Viele Hände halfen mit, die Außenwände aufzumauern. Wer wollte und konnte durfte an der Errichtung der Notkirche mit eigenen Händen mitwirken. Dies stärkte das Gemeinschaftsbewusstsein.

Die aktive Teilnahme der Gemeindeglieder war gewollt. Otto Bartning brachte das Konzept mit der Wüstenwanderung des Volkes Israel im Alten Testament in Verbindung. Aus Anlass der Einweihung der ersten Notkirche in Pforzheim 1948 beschrieb er das vollzogene Werk in biblischen Metaphern: „Wenn aber zwei oder drei in der Wüste sich treffen und am besonderen Blick der Augen sich erkennen, so bleiben sie beisammen. Und wenn ihrer dreißig oder vierzig oder vierhundert werden, so werden sie eine Gemeinschaft bilden des Schweigens, des zögernden Redens und des plötzlichen Betens. Solche Gemeinschaft in der Wüste aber wird einen Ring von Steinen legen und wird ein Zelt bauen, nicht nur um den Ort des Zusammenseins zu sichern, sondern um diese ihre Gemeinschaft des Geistes sichtbar und also auch in den Sinnen wirksam zu machen.“

Wenn wir heute in der Notkirche den Blick nach oben lenken, können wir gut nachvollziehen, dass man den Entwurf mit einem Zelt verglich.

Brauchen wir auch heute so ein Zelt in der Wüste, um für die Herausforderungen der Gegenwart gewappnet zu sein?

Es mag viele Gründe geben, eher sorgenvoll in die Zukunft zu blicken: Das Kriegsgeschehen in Europa, die Erfahrungen mit der Corona-Pandemie, der Klimawandel, die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche und nicht zuletzt die schwindende Akzeptanz der christlichen Religion in einer zunehmend säkularen Umgebung. Angesichts einer Umwelt, die an Sicherheit verliert, suchen wir Halt. Der Autor des Hebräer-Briefes kleidete dieses Bedürfnis in eindringliche Worte: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“

Hier klingt die bis heute gültige Erfahrung an, dass wir jederzeit enttäuscht werden können, wenn wir uns allzu häuslich einrichten. Anders als das Volk Israel in seiner Frühzeit sind wir keine Nomaden, die mit ihrem Vieh und einem Zelt von Ort zu Ort ziehen. Unser Leben ist fest verankert und lässt sich im Regelfall mit Wohnung, Familie, Arbeitsplatz und geregeltem Einkommen einschließlich Kranken- und Rentenversicherung umschreiben. Trotzdem kann es sein, dass wir „ins Schwimmen geraten“, sei es in unseren persönlichen Belangen; etwa bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit, oder weil wir bei all den Nachrichten, die uns erreichen, die berechtigte Frage stellen: Wohin soll das noch führen?

Da ist es gut zu wissen, dass wir in einer christlichen Gemeinde leben, die ein bergendes Zelt in der Wüste für uns bereithält. Wir können dankbar sein für die Orte, an denen wir uns als Gemeinde treffen, sei es zum Gottesdienst, zum Beten oder zum geselligen Beisammensein. Hier lässt sich die Kraft, die von Gottes Liebe ausgeht und in uns Menschen wirkt, unmittelbar erleben. Hier können wir Stärkung erfahren und getrost den Herausforderungen entgegensehen, welche die kommenden Jahre für uns bereithalten. Hier können sich Menschen über ihre Ängste, Hoffnungen und Träume austauschen. Fazit: Solange wir Zelte aufschlagen, um uns dort zu versammeln, besteht unsere Kirche fort.

ROBERT WELZEL

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