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Notkirche
Wissenswertes zur Apostel-Notkirche –
Trümmerkirche und Kunstraum
Text von Robert Welzel
Zusammen mit dem neuen „Forum Apostelkirche“ (Entwurf: Essener Planungsbüro Schulschenk) wurde am 31. Oktober 2009 auch die renovierte und jetzt mit dem Forum verbundene Apostel-Notkirche wiedereröffnet, fast auf den Tag genau 60 Jahre nach ihrer Einweihung. Die Apostel-Notkirche gehört zu den am besten erhaltenen Notkirchen des Architekten Otto Bartning in Deutschland und wird heute als Gemeindesaal und „Kunstraum" auch für Ausstellungen zeitgenössischer Kunst genutzt.
Holz als Friedenszeichen
Otto Bartning (1883-1959) gilt als einer der bedeutendsten evangelischen Kirchenarchitekten des 20. Jahrhunderts. Er sah in einer Kirche im protestantischen Sinne vorrangig einen Zweckbau, da sich die Sakramente im Gläubigen selbst vollziehen. In seinen berühmten Entwürfen von Stern-, Stahl- und Rundkirche, die wichtige Impulse für das spätere Notkirchenprogramm lieferten, experimentierte Bartning schon in den 1920er Jahren mit der Stellung von Altar, Kanzel und Taufbecken im Raum. Zugleich sprach er sich für eine stärkere Einbeziehung der Gemeinde im Gottesdienst und für eine Aufwertung des Abendmahls aus. Die Gläubigen sollten gefühlsmäßig an den Altar als Ort des Abendmahls und an die Kanzel als Ort der Predigt, welche den Gläubigen auf das Abendmahl vorbereitet, gebunden werden.
Seinem Modell der Sternkirche (1922-30), die als protestantische Idealkirche großes Aufsehen erregte, aber niemals gebaut wurde, lag der vom griechischen Theater der Antike abgeleitete Zentralraum zu Grunde. Nach den vor allem in Stahl geführten Materialschlachten des 1. Weltkrieges sah Bartning Holz als Friedenszeichen, als intimen Freund des Menschen an. Holz sollte als Baustoff der Sternkirche dienen, prägt aber auch das spätere Notkirchenprogramm.
Das Taufbecken rückte Bartning bei seiner Rundkirche (Auferstehungskirche in Essen-Ost, 1929-30) ins Zentrum. Die Kanzel ist dahinter angebracht und aus der Mitte geschoben. Hinter einem Vorhang befindet sich ein separater Teil des Rundbaus, der zur Feier des Abendmahls dient. Ein weiterer Teil des Raumes konnte durch versenkbare Schallschutzwände abgetrennt werden. Auch beim späteren Notkirchenentwurf war dies mittels Klappwänden möglich: Der Sakralraum wurde zum funktionalen Mehrzweckraum!
Entscheidendes Vorbild für das Notkirchenprogramm Bartnings war die Stahlkirche, die zunächst 1928 für die Pressa in Köln-Deutz als Ausstellungskirche erbaut wurde. Bartning verwendete serielle Stahlstützen, die sonst für den Industrie- oder Brückenbau üblich waren. Da gemauerte Wandflächen einem schnellen Auf- und Abbau entgegenstanden, bestand die Kirche darüber hinaus fast ausschließlich aus Buntglas. Unserer Kirchengemeinde (damals Essen-West) kosten- und lastenfrei übergeben, fiel die 1931 als „Melanchthonkirche“ in Essen-Holsterhausen wiedererrichtete Stahlkirche 1942 den Bomben zum Opfer.
„Trümmerkirchen“
Schon 1942 und 1943 kam es nach Geheimgesprächen zwischen den evangelischen Kirchen in Deutschland und Amerika zu umfangreichen Spendensammlungen in den Vereinigten Staaten. Sogleich nach Kriegsende wurde das Hilfswerk der Evangelischen Kirche Deutschlands gegründet.
Über den Ökumenischen Weltrat der Kirchen in Genf wurden Kirchenbaracken des Schweizer Militärs, Marke „UNIFORM“, als Soforthilfe bereitgestellt. In seiner Funktion als Leiter des Baubüros des Hilfswerkes unterbreitete Otto Bartning den Vorschlag für einen eigenen Kirchenbausatz, der größer und kostengünstiger war, und vor allem „in architektonisch gültiger Gestalt und unter Weckung aller aktiven Kräfte der bisher nur passiv beschenkten Gemeinden“ errichtet werden konnte.
Bartning entwickelte hierfür einen einfachen Saalbau mit einer Konstruktion aus Holznagelbindern und nichttragenden Wänden, der in Serienfabrikation herzustellen war. Der Bausatz dieser „rubble church“ („Trümmerkirche“) ließ sich problemlos in ein vorgegebenes städtisches Umfeld, ja selbst eine vorhandene Kirchenruine einfügen. Ohne die Reaktionen der Spenderkirchen in den USA auf seinen Vorschlag abzuwarten, ließ Bartning in Pforzheim mit deutschen Geldmitteln eine erste Notkirche bauen, nicht zuletzt, um den Bausatz und seine Tauglichkeit erproben zu können. Am 24. Oktober 1948 konnte in Pforzheim mit der ersten Notkirche auch der erste protestantische Kirchenbau der Nachkriegszeit in Deutschland eingeweiht werden.
Dann ging es Schlag auf Schlag. Bis 1951 entstanden sowohl in West-, als auch in Ostdeutschland insgesamt 43 Notkirchen. Finanziert wurden die Kirchen neben der Eigenleistung der Gemeinden durch umfangreiche Spenden, vor allem des Lutherischen Weltbundes mit 32 Kirchen und der Evangelical and Reformed Church mit 7 Kirchen, darunter die Frohnhauser Apostel-Notkirche. Die Serienteile wurden anfangs in der Schweiz, später in Karlsruhe gefertigt. Hier sind auch die Binder der Apostel-Notkirche entstanden.
Gemeinde baut Kirche
Die Evangelische Kirchengemeinde Essen-West stellte schon am 6. Dezember 1945 einen Antrag an das Hilfswerk und schilderte darin die akute Notsituation der Gemeinde: „Nach Beendigung des Krieges war die Lage in unserer Gemeinde so, daß die Gottesdienste teilweise in Kirchenkellern, bezw. in den schwer beschädigten Pfarrhäusern stattfinden mußten. Inzwischen konnte im Bezirksteil Frohnhausen in einem ebenfalls schwer beschädigten städt. Kinderheim ein Kirchensaal, der 200 Menschen faßt, und ein Kindergarten eingerichtet werden. ... In dem besonders stark bewohnten Bezirk Frohnhausen und Essen-West-Mitte faßt der in Benutzung befindliche vorgenannte Saal nur einen Teil der zu den Gottesdiensten Erscheinenden. Selbst die Abhaltung einer Reihe von Parallel-Gottesdiensten bringt keine wirksame Abhilfe. ... Unsere Gemeinde zählt bei ständigem Zuwachs an Evakuierten, Ostflüchtlingen u.s.w. schätzungsweise wieder 30.000 Gemeindeglieder, die zum großen Teil in notdürftig hergerichteten Häusern, Behelfsheimen und Kellerwohnungen untergebracht sind. Daß es wichtig ist, daß gerade diese Ärmsten der Armen in würdigen Gottesdienststätten Stunden der Stille und Sammlung um Gottes Wort finden, brauchen wir nicht besonders hervorzuheben.“
Über die Bauarbeiten am schließlich bewilligten Gotteshaus berichtete die Rhein-Ruhr-Zeitung vom 26. Januar 1949: „Die Christen in Amerika haben Geld gesammelt, und mit diesem Geld werden in der Schweiz die Rohstoffe, Holz, Glas u.s.w. gekauft, und deutsche Handwerker verarbeiten diese Rohstoffe zu Kirchenteilen, die nach Essen-West verschickt und zu einer fertigen Kirche zusammengesetzt werden. Diese Kirche soll auf dem Fundament des ehemaligen Gemeindesaales neben der Apostelkirche aufgestellt werden ... Die Gemeinde muß selbst zwei Dinge tun, nämlich die Trümmer von dem Fundament des Gemeindesaales in Selbsthilfe entfernen, die Ziegelsteine putzen und die Umfassungsmauern selbst aufrichten. … Täglich von 8 Uhr bis zur Dunkelheit wird darum ab sofort aufgeräumt, und freiwillige Kräfte aus der Gemeinde, Jugend, Männer und Frauen, werden mithelfen.“
Die bereitgestellten Holzbinder wurden am Boden zusammenmontiert und mit primitivsten Hilfsmitteln aufgerichtet und miteinander verbunden. Um die Standfestigkeit zu sichern, musste nun zügig die Giebelwand von einer Fachfirma hochgezogen und die ganze Binderkonstruktion daran befestigt werden. Derweil konnten die Gemeindeglieder, die bereits Trümmersteine in ausreichender Menge geputzt hatten, Abschnitt für Abschnitt die nicht tragende Außenwand um die Binderkonstruktion herummauern.
Kirche und Demokratie
Im Inneren der Apostel-Notkirche dominiert der offene, hölzerne Dachstuhl, der über dem umlaufenden „Lichtband“ der Fenster (2009 originalgetreu erneuert) förmlich zu schweben scheint: „Notkirche ist ein Zelt in der Wüste“ (Bartning). Auch Empore, Kanzel, Altar, handgeschmiedete Liedanzeiger, Türgriffe, Treppenläufe und Türen wurden nach Bartnings Entwürfen gefertigt. Die spürbare Nähe der Gottesdienstgemeinde zu Altar und Kanzel, ein nahezu demokratisches Verhältnis von Gemeinde zu Theologen, entsprach ganz den Vorstellungen der amerikanischen Geldgeber, die nicht zuletzt in den Notkirchen eine erzieherische Maßnahme sahen, auf christlicher Grundlage die Entnazifizierung voranzutreiben. Die Notkirche wurde als „Grundelement der Erneuerung“ gesehen, auch einer politischen Erneuerung.
Die auf Wunsch Bartnings sichtbaren Trümmersteine, aus denen selbst Altar und Kanzel gefertigt waren, stellen bis heute einen sichtbaren Bezug zur Notsituation von 1949 her. Blasse Spuren an den Holzbindern zeigen die Stellen an, welche 1949 die Bartningschen „Lichtkästen“ als Beleuchtungsmittel einnahmen. Von der vorbildlichen Ausführung des von Baumeister Heiderhoff vor Ort betreuten Bauvorhabens überzeugte sich Otto Bartning nach Beendigung der fünfmonatigen Bauzeit persönlich.
Kirche muss neu werden!
„Und Sie werden verstehen, wie groß unsere Freude ist und wie dankbar wir sind, eine Kirche mit 450 Sitzen für die Gemeinde zu bekommen.“, schrieb die Gemeinde Essen-West an die Evangelical and Reformed Church am 9. Dezember 1948. „Deshalb danken wir Ihnen von ganzem Herzen für Ihre großzügige Hilfe. Diese Hilfe ist für uns ein Zeichen der Gemeinschaft und Verbundenheit im Glauben mit den Christen der ganzen Welt und ermutigt unsere Gemeinde, das schwere Aufbauwerk fortzusetzen zum Segen unserer Gemeinde und zur Ehre Gottes.“
Der Präsidenten der Evangelical and Reformed Church in Chicago, L.W. Goebel, antwortete in seinem deutschen Grußwort zur Einweihung: „Nicht uns, hier in Amerika sondern unserem Gott allein gebührt der Dank. Die Gaben aus unseren Kreisen hat seine Liebe flüssig gemacht.“ Und im Begleitschreiben an Pfarrer Kötz fügte er hinzu: „Hoffentlich wird es Ihnen nicht zu viel Mühe machen, meine Zeilen zu entziffern. Deutsche Stenographen gibt es nun einmal nicht mehr bei uns.“ An der Einweihung der Apostel-Notkirche am 30. Oktober 1949 nahm neben Präses D. Held und Bürgermeister Josef Aust der Deutschlandvertreter des Weltkirchenrates, Probst Halfdan Högsbro, teil, dessen Ansprache uns überliefert ist:
„Die Völker, die im Kriege gegeneinanderstanden, reichen sich jetzt die Hände zur Gemeinschaft: die Kirche ist erbaut dank gemeinsamer amerikanischer und deutscher Arbeit und gemeinsamer Opfer. ... Und doch: immer wenn ich an der Einweihung von Notkirchen teilnehme, habe ich das Gefühl: da sind aber noch die Ruinen. Das macht mir das Herz schwer. An diese Ruinen, ihre Mahnung, ihr Zeugnis dürfen wir uns nicht gewöhnen. ... sie zeugen von Schuld, von einer furchtbaren Krankheit, die nicht nur in Deutschland, die in allen Völkern gesessen hat. Hier sind zwar die Ruinen am stärksten, aber alle stehen unter dieser Schuld: Sein Wort ward nicht mehr geachtet, darum kamen wir unter Gottes Gericht. ... Dieser tiefe Ernst liegt über dieser Feier und ihrer Freude. Es geht nicht, wo man des Herrn Wort und Einladung verachtet. … Das ist jetzt die Gnadenzeit, unter den Ruinen aufzubauen und ein Neues zu schaffen. So wir ein Neues einweihen, geht es nicht weiter mit dem alten Kleid, dem alten Wesen: die Kirche muß neu werden, um an die Menschen heranzukommen, an den einfachen Mann, den Bergarbeiter, den Kumpel, und jeder soll es merken: es geht mich an, dafür wurde das Wort Fleisch ...“
Die der Gemeinde 1949 von Christen aus den Vereinigten Staaten geschenkte, von Otto Bartning entworfene und unter Mitwirkung vieler Gemeindeglieder in Selbsthilfe erbaute Apostel-Notkirche ist nicht nur ein wichtiges Zeugnis der Nachkriegsgeschichte unserer Kirchengemeinde und des Stadtteils Frohnhausen. Ihre kunstgeschichtliche Bedeutung und gestalterische Qualität, der auch bei der jüngsten Renovierung einfühlsam Rechnung getragen wurde, macht sie zu einem der schönsten Ausstellungsräume für moderne Kunst in den Essener Stadtteilen. Vor allem aber ist sie auch nach über 60 Jahren noch immer ein aus Stein, Holz und Glas geformtes Plädoyer für Frieden und Demokratie, ein Ort, in dem – ganz im Sinne ihrer Stifter – christliche Gemeinde täglich neu lebendig wird, sich öffnet und in die Stadt ausstrahlt.
Quellenhinweis: Robert Welzel: Frohnhausens Trümmerkirche wird 50 - Dokumentation zur Entstehung der Apostel-Notkirche. In: Schriftenreihe des Arbeitskreises Frohnhauser Geschichte, Heft 3, Essen, Oktober 1999.
Dialog zwischen Kirche und Kunst im Kunstraum Notkirche
Der Kunstraum Notkirche hat sich als ein profilierter Ort des Dialogs von zeitgenössischer Kunst, Religion und Kirche einen Namen weit über Essen hinaus gemacht. Seit 1988 finden regelmäßige zeitgenössische Kunstausstellungen statt. Mittlerweile sind über 80 Inszenierungen präsentiert worden